Europa-Schule Kairo – Inklusionskonzept
Der Inklusionsbegriff der Europa-Schule Kairo basiert auf einem erweiterten Integrationsbegriff. Unser Ziel ist es, eine „Schule für alle“ zu gestalten, in welcher die Vielfalt der Schülerschaft als Möglichkeit für einen wechselseitigen Lernprozess gesehen wird.
Auf den schulischen Kontext bezogen bedeutet dies, dass wir an der Europa-Schule Kairo versuchen auf die jeweils individuellen Lernvoraussetzungen und Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder einzugehen und niemanden zurück zu lassen.
Das im Jahr 2011 entstandene Inklusionskonzept der Europa-Schule Kairo wurde deshalb in das Schulprogramm aufgenommen und in das Leitbild der Schule integriert. Ein stetig wachsendes Team aus Fachkäften der Schulsozialarbeit, Sonderpädagogik und Ergotherapie unterstützt nicht nur im Schulalltag sondern arbeitet kontinuierlich an der Weiterentwicklung und Evaluation des Inklusionskonzepts.
1. Die Europa-Schule Kairo
Derzeit besuchen ca. 1200 SchülerInnen die Europa-Schule Kairo, vom Kindergarten bis hin zur Klasse 12. Meist wird dabei das Abitur angestrebt, wobei für die Kinder auch die Möglichkeit besteht den Haupt- oder Realschulzweig zu besuchen bzw. inklusiv beschult zu werden.
Wir haben uns allerdings nicht nur zum Ziel gesetzt einen deutschen Schulabschluss anzubieten, sondern auch ein gemeinsame Lernen. Es sollen Schwächen überwunden, Stärken gefördert und alle in die Schulgemeinschaft miteinbezogen werden. Auf diese Weise kann ein Klima der Toleranz und des Dazugehörens geschaffen werden.
2. Sozialraum und Rahmenbedingungen
Aufgrund der sehr hohen Einwohnerzahl und dem stetigen Bevölkerungszuwachs in Ägypten ist der Staat bildungspolitisch vor erhebliche Herausforderungen gestellt. Der Bildungssektor wird nicht hinreichend gefördert, staatlich angestellte Lehrkräfte werden nur unzureichend bezahlt und die entpsrechenden Schulen sind meist nur mangelhaft ausgestattet und überbelegt.
Der private Bildungssektor ist in Ägypten daher sehr gefragt. Es werden jährlich neue Bildungseinrichtungen gegründet und alleine in Kairo gibt es vier deutsche anerkannte Auslandsschulen. An diesen werden sowohl der ägyptische Abschluss Thanawaya Ama, als auch das IB, das GIB und das deutsche Abitur angeboten.
Der Großteil der Schülerschaft an der Europa-Schule kommt aus ägyptischen, relativ wohlhabenden Familien. Der Bildungsweg der Kinder ist meist schon sehr früh vorherbestimmt und der akademische Druck für die Kinder extrem hoch nach dem Schulabschluss an einer Universität zu studieren. Ein Ausbildungssystem für Berufe wie in Deutschland gibt es hier nicht und der Abgang von der Schule nach dem Adadeya am Ende der 9. Klasse stellt keine sehr gute Zukunftsperspektive dar.
Auch für Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischen Förderbedarf gibt es keine große Auswahl an Institutionen und Einrichtungen, zudem sind diese sehr kostspielig.
3. Aufnahme von SchülerInnen mit Förderbedarf
Die Aufnahmebedingungen für die Europa-Schule Kairo sind in der Schulordnung geregelt und basieren auf den notwenigen Anforderungen für das Bestehen des deutschen internationalen Abiturs. Seiteneinsteiger werden aufgenommen, so ein gymnasiales Abgangszeugnisse vorliegt oder sie einen Eingangstest in den Fächern Deutsch, Mathematik und Englisch bestehen.
Kinder mit Lernschwierigkeiten und Beeinträchtigungen können aufgenommen werden, sofern eine Diagnose und/ oder Gutachten eines anerkannten Spezialisten vorliegt und ein durch die Eltern finanziertes Unterstützungssystem gewährlseistet werden kann. Dies kann in Form einer Einzelfallhilfe bzw. Schulbegleitung geschehen, aber auch durch Therapien und andere außerschulische Maßnahmen. Schulintern werden SchülerInnen bei Bedarf außerdem durch individuell abgestimmte Lehr- und Lernpläne, Differenzierung im Unterricht und gegebenenfalls auch Nachteilsausgleiche in Prüfungsssituationen unterstützt.
Grundsätzlich schliesst eine Beeinträchtigung die Beschulung an der Europa-Schule nicht aus, muss aber im Einzelfall ob ihrer Machbarkeit geprüft werden.
4. Förderbedarf
Der Großteil des Förderbedarfs and der Europa-Schule fällt in den Bereich Lernbeeinträchtigung und sozial-emotionale Entwicklung. Auffallend oft lautet die Diagnose der Kinder und Jugendlichen LRS oder ADS/ ADHS. Allerdings besuchen auch SchülerInnen unsere Schule, die aufgrund chronischer Krankheiten, motorischer oder kognitiver Beeinträchtigungen besondere Unterstützung benötigen.
5. Umgang mit Förderung
Deshalb beschäftigt die Europa-Schule seit 2010 sozialpädagogische Fachkräfte, welche auch für die Begleitung von SchülerInnen mit individuellem Förderbedarf zuständig sind. Diese sind allerdings nicht dafür ausgebildet spezifischen und sonderpädagogischen Förderunterricht zu erteilen. Das Inklusionskonzept der Europa-Schule wird deshalb seit 2015 kontinuierlich evaluiert und weiterentwickelt. Dafür wird die Umsetzung des Konzepts durch ein stetig wachsendes Team aus diversen Fachkräften begleitet und die Schulsozialarbeit auf diese Weise ergänzt.
Letztliches Ziel dabei ist es, die Kinder inklusiv zu beschulen. Das bedeutet wir möchten die SchülerInnen im Klassenverband unterrichten und eine Differenzierung und Individulaisierung innerhalb der Lerngruppe ermöglichen. Eine intensive Einzelförderung ist zwar dennoch bei Bedarf durchaus erwünscht, ist leider aufgrund begrenzter personeller Ressourcen nicht immer oder nur beschränkt umzusetzen.
5.1. Diagnostik und Testung
Neben der ausgelagerten Diagnostik durch schulexterne, spezialisierte und medizinische Fachkräfte, werden auch innerhalb der Europa-Schule Testungen durchgeführt. Hierzu zählen beispielsweise allgemeine und lerngruppenübergreifende Tests bei Eintritt in den Kindergarten, die Grundschule oder für Neuzugänge in den sogenannten „D-Zug“ der 4. Jahrgangsstufe, einer Laufbahn für Kinder ohne Vorkenntnisse der deutschen Sprache.
Des weiteren finden individuelle Einzeltests wie die erwähnten Eingangstests für Seiteneinsteiger statt, teilweise aber auch die Überprüfung sonderpädagogischen Förderbedarfs, allgemein kognitiver Fähigkeiten und der Lernentwicklung.
Eine umfangreiche Anamnese und Diagnostik ist eine ebenso wichtige Grundlage für die Unterstützung der SchülerInnen wie die enge Kooperation mit allen involvierten Lehrkräften, den Eltern, außerschulischen Anlaufstellen wie Psychplogen und Therapeuten und den Kindern selbst.
5.2. Einzel- und Kleingruppenförderung vs Unterstützung im Klassenverband
Durch die Kooperation und regelmäßige Rücksprache aller Beteiligten wird versucht die Betreuung der Schülerinnen möchlichst genau auf deren Bedarfe abzustimmen.
Ist in manchen Situationen eine individuelle Betreuung und konkrete Auseinandersetzung mit einzelnene SchülerInnen notwendig, kann in vielen Bereichen durchaus innerhalb der Klasse unterstützt und der Grundgedanke der Inklusion somit umgesetzt und auch innerhalb der Schulgemeinschaft etabliert werden.
Parallel dazu bietet die Förderung in Kleingruppen die Chance für Lehrkräfte aktiver auf einzelne Kinder eingehen zu können. Dies geschieht an der Europa-Schule beispielsweise durch die Aufteilung in DAF-Klassen, den Einsatz von Assistenzlehrkräften aber auch Binnendifferenzierung anhand des Unterrichtsmaterials.
5.3. Deutsch als Fremdsprache
Hinsichtlich der Tatsache, dass die deutsche Sprache für den Großteil der Schülerschaft keine Muttersprache ist, wird an der Europa-Schule auch ein Fokus auf die Sprachförderung gelegt. Einerseits bezüglich der Aussprache, aber auch den Schriftspracherwerb betreffend. Wenn SchülerInnen Defizite in ihrer Spachkompetenz aufweisen, müssen folglich sowohl die Testung als auch die Sprachentwicklung und – förderung immer auch unter dem Aspekt der Multilingualität betrachtet werden.
Das Angebot der Bücherei zur Förderung der Lesemotivation, der Lernzirkel zur Leseförderung in der Grundschule, online Lernplattformen wie „Antolin“ und Klassenübergreifende „Lesetandems“ schaffen dabei Möglichkeiten für Kinder sich ihren eigenen Kompetenzen entsprechend zu entwickeln. Gleichzeitig kann es Lehrkräften auch als Instrumentarium dienen, um die Fortschritte der SchülerInnen sichtbar zu machen.
5.4. Nachteilsausgleich
Liegt der Schule eine ensprechende Diagnose vor, haben SchülerInenn den Anspruch auf individuell abgestimmt Maßnahmen, um ihre Teilhabe am Schulalltag zu gewährleisten.
Gemäß der „Hinweise zur Inklusion an Deutschen Auslandsschulen vom 11.12.2014“ sowie dem Beschluss „NS 251.BLASchA vom 17./18.03.2010“ werden als Nachteilsausgleich folgende Möglichkeiten beschrieben:
– Schulorganisatorische Maßnahmen für den laufenden Unterricht (individuelle Unterstützung, geeigneter Arbeitsplatz)
– Technisch-didaktische Hilfsmittel (PC/ Audiogeräte/ Lärmschutzkopfhörer)
– Methodisch-didaktische Hilfsmittel (Lesepfeil, Schriftgröße)
Zudem besteht die Möglichkeit von allgemein geltenden Grundsätzen der Leistungsbewertung abzuweichen:
– Bereitstellung der Arbeitsaufträge in differenzierter Form
– Ausweitung der Arbeitszeit insbesondere in Prüfungssituationen
– Orientierung an individueller Bezugsnorm und pädagogischer Ermessenspielraum
– Stärkere Gewichtung mündlicher Leistungen
– Auslassung der Bewertung der Lese- und Rechtschreibleistung
5.5. Weiterführende Angebote
Methodenvielfalt und -evaluation
Um den sehr unterschiedlichen Anforderungen der SchülerInnen gerecht werden zu können, erproben wir an der Europa-Schule außerdem immer wieder neue Konzepte und versuchen unsere Angebotspalette anzupassen und zu erweitern. Die Lernangebote sollen dafür den Möglichkeiten der Kinder und Jugendlichen angepasst, kooperative Methoden und neue Medien genutzt werden.
Digitalisierung als Chance
Insbesondere in Fällen von Dyslexie aber auch bei häufiger Absenz bedingt durch chronische Krankheiten können Kinder durch den Einsatz neuer Medien und den Gebrauch der schulinternen Lernplattform „Lo-net2“ unterstützt werden. Dadurch wollen wir den SchülerInnen den eigenständigen Gebrauch dieser Medien näherbringen, um ihnen auch für ihre Zukunft die Teilhabe an unserer stark digitalisierten Gesellschaft zu ermöglichen.
Sozialkompetenzen
In einer Schulgemeinschaft und besonders im Schulalltag sind Konflikte unvermeidbar. Zur konstruktiven Bewältigung dieser aber auch zur Stärkung eines demokratischen Grundverständnisses haben die Lehrkräfte die Möglichkeit den „Klassenrat“ als festen Bestandteil des Unterrichtsgeschehens zu installieren.
Des weiteren steht zur Unterstützung eines störungsarmen Lerumfelds in der Grundschule der Auszeitraum und im Gymnasium der Trainingsraum zur Verfügung. Dort werden die Kinder beraten und angeleitet über Probleme und Konfliktsituationen zu reflektieren, Handlungsalternativen zu entwickeln und ihr Verhalten nachhaltig zu verbessern.
Zieldimensionen
Die Umsetzung des Inklusionskonzepts an der Europa-Schule als Auslandschule in Ägypten gestaltet sich oft schwierig. Aufgrund der sehr differenten Erwartungshaltungen an die Schule als Bildungseinrichtung – einerseits der Schule und Lehrkräfte, andererseits der Gesellschaft und dadurch der Eltern – steht noch viel Aufklärungsarbeit bevor. Die oftmals negative Konnotation und Stigmatisierung durch Beeinträchtigungen verschiedenster Art erschweren ein Vorankommen und erfordern sehr viel Sensibilität, Verständnis und Vertrauen.
Gleichzeitig wollen wir als Schule ein stabiles Netzwerk und Partnerschaften etablieren. Gewünscht ist eine Kooperation mit spezialisierten Institutionen, anderen Bildungseinrichtungen und Fachräften verschiedener Disziplinen.
Darüber hinaus sollen vermehrt regelmäßige und verbindliche Fortbildungen die Qualifikation der Pädagogen stärken und Elternseminare zu ausgewählten Themen angeboten werden.
Notwendige Ressourcen
Damit der eingeschlagene Weg weiter verfolgt werden kann, benötigt die Schule qualifizierte Fachkräfte. Das bisherige Team ist zwar in den letzten Jahren stetig gewachsen, dennoch werden wir durch eine hohe Fluktuation an Personal häufig wieder in der Entwicklung zurückgeworfen. Und obwohl es sich oftmals schwierig gestaltet geeignete MitarbeiterInnen anzuwerben, kann die Europa-Schule mittlerweile ein kompetentes Team aus Sonderpädagogik, Ergotherapie und Schulsozialarbeit vorweisen.
Diesem Team stehen für eine flexible Gestaltung mittlerweile mehrere Räume im Gymnasium und auch in der Grundschule zur Verfügung. Teilweise benötigen diese noch weitere adäquate Ausstattung, werden aber aktiv und viel genutzt. Sowohl zur temporären Teilung großer Lerngruppen, als auch für Einzelförderung, für Beratungsgespräche oder Testung.
Es wurden bereits einige Testverfahren angeschafft (HAWIK 4, ELFE 1-6, OTZ, DEMAT 5+ etc.), um schulintern zu testen. Die Ergebnisse können aber nicht immer eindeutig interpretiert werden und sind nicht immer valide, da eine Normierung für den hiesigen Kulturraum fehlt und der sprachliche Anteil (teilweise) erheblich ist.
In Teilen wurden auch eigene Einstufungsverfahren entwickelt, allerdings sind diese nicht standardisiert und orientieren sich entweder an curricularen oder sozialen Bezugsnormen der jeweiligen Testgruppe.
Für eine erfolgreiche Weiterarbeit müssen wir uns deshalb der Frage nach alternativen Bildungsabschlüssen und geeigneten außerschulischen Institutionen als Kooperationsparter stellen. Und um eine zumindest gleichbleibende Qualität zu gewährleisten müssen grudlegende Bausteine erarbeitet, fest implementiert und für alle sichtbar gemacht werden.
Stand September 2020